Ronde de la jeunesse oder
Antibes – Hauptstadt meiner Jugend

26. August 2012. Hier war ich nun. Nach einwöchigem Roadtrip angekommen in Antibes, dem wahren Juwel der Côte d’Azur. Ich stand etwas verloren neben meinem massenhaften Gepäck und wartete darauf, dass mein Zimmerschlüssel auftauchte. Ich blickte mich um. Das war sie also, „meine“ Residenz – Castel Arabel, ein Name, mit dem ich in diesem Moment wenig anfangen konnte, mit dem sich später aber fast eine Art Lebensphilosophie beschreiben ließ.

Ein nettes, großes Haus mit mehreren Balkonen, ein Pool, eine Gemeinschaftsküche, deren miserablen Zustand ich auf den ersten Blick noch nicht erkennen konnte, ein paar Palmen und zwei Orangenbäume, Temperaturen, die man nur mit dem Wissen, dass man sich unweit vom Meer befindet, und der damit verbundenen, ganz speziellen Luft ertragen kann, einige Nebengebäude, die ich noch nicht so ganz zuordnen konnte, mehrere Plastiktische, um die sich in kleinen Grüppchen glücklich aussehende Jugendliche versammelt hatten und blendend unterhielten und ein Rezeptionist, der mir trotz nicht zu überhörendem deutschen Akzent in für mich zu diesem Zeitpunkt beeindruckend gutem Französisch erklärte, dass es sein konnte, dass meine Zimmerkollegin den zweiten Schlüssel mitgenommen hatte.

Zimmerkollegin – ach ja, irgendwo in den unzähligen Seiten an Unterlagen, die man mir zugesandt hatte, stand etwas von einem Zweibettzimmer in einer der Residenzen oder einer Gastfamilie und dass ich noch nähere Informationen erhalten würde – was dann nur sehr bedingt der Fall war.

Aufregung, Neugierde, Abschied – dies waren die Schlagwörter der vergangenen Tage und Wochen gewesen. Nun sind vier Monate keine allzu lange Zeit und ich war mein Leben lang schon vom Fernweh geplagt worden, also fiel es mir nicht besonders schwer, meine gewohnte Umgebung hinter mir zu lassen. Und hier war ich nun. Das monatelange Warten hatte ein Ende gefunden. Dennoch stand ich etwas verloren neben meinem massenhaften Gepäck und wartete.

Endlich kam meine Zimmerkollegin durch das Eingangstor. Gott sei Dank – sie hatte den zweiten Schlüssel bei sich. Wir schüttelten uns die Hand, stammelten ein paar französische Begrüßungsworte, bevor wir feststellten, dass es uns beiden um einiges leichter fiel, Englisch zu sprechen. Sie sagte mir ihren Namen. Ich verstand ihn nicht. Sie warf einen kritischen Blick auf mein massenhaftes Gepäck. Ich musterte sie von oben bis unten, dann die Freundin, die gemeinsam mit ihr aufgetaucht war. Sie waren beide blond, blauäugig und braungebrannt. Ich wusste nicht so recht, was ich davon halten sollte. Wir gingen an dem netten, großen Haus mit mehreren Balkonen vorbei zu einem der Nebengebäude.

Eine Stiege führte uns auf eine Art Terrasse, von der aus man drei Zimmer erreichen konnte. Das mittlere war unseres. Der erste Blick in die minimalistische Behausung füllte mich mit Unbehagen. Es war ein länglicher Raum von etwa 15m². In den hinteren Ecken stand jeweils ein Bett, dazwischen eine Kommode. Rechts neben der Eingangstüre war ein winziger Kleiderschrank, links das „Badezimmer“ – eine durch eine Mauer abgegrenzte Dusche, daneben ein Waschbecken. Keine Türe, kein Duschvorhang. Letzteres würde sie am nächsten Tag kaufen, meinte meine Zimmerkollegin. Ich wollte sie nicht noch einmal nach ihrem Namen fragen. Sie kam aus Island, wie ich bald erfuhr, ihre Freundin aus Südafrika. Ich kam mir unspektakulär vor. Österreich. Nein, nicht Deutschland. Ich versuchte, meine Sachen so gut wie möglich zu verstauen. Ein großer Teil blieb in einem der Koffer und wurde unter das Bett geschoben.

Wenn ich jetzt an diese ersten Eindrücke zurückdenke, muss ich schmunzeln. „Oh, that messy, shitty, tiny, little room of ours back in Antibes…“, sagt Eyrún mit Kopfschütteln und auch ein bisschen Wehmut, als sie sich in meiner Wohnung in Wien umsieht. Eyrún – so heißt sie, meine liebe isländische Freundin.

Ja, dieses Zimmer, das aus unerfindlichen Gründen als Gemeinschaftsraum fungiert hatte. Wie oft kam ich von Schule oder Arbeit nach Hause und hatte schon Besuch, der einfach mit meinem Laptop an dem Tisch saß, den wir irgendwann von der Terrasse ins Zimmer gestellt und nie wieder weggeräumt hatten. Der anfangs verschollene Zimmerschlüssel war nämlich relativ überflüssig, die Tür jederzeit durch ruckartiges Ziehen zu öffnen. Aber das war alles irgendwie in Ordnung. Wenn ich nach einem anstrengenden Arbeitstag nachmittags ein kleines Nickerchen machen oder abends ausnahmsweise mal früher schlafen gehen wollte, weil ich wie immer früh rausmusste, und dann plötzlich Leute da waren, deren einziges Ziel es zu sein schien, mich von genau diesem Plan abzuhalten, murmelte ich natürlich im Halbschlaf eine wüste Beschimpfung, stand dann aber meist auf und ging mit einem trotz Anstrengung und enormer Müdigkeit nicht zu unterdrückendem Lächeln nach draußen, um mit meinen Freunden ein Bier zu trinken.

Ach, wie gerne erinnere ich mich an diese lauen Sommerabende am Balkon, an denen man einfach nur die internationale Gesellschaft genießt, sich über Länder und Sitten austauscht und lacht, bis man glaubt, seine Bauchmuskeln stärker beansprucht zu haben als bei einem mehrstündigen Work-Out. Da war dieses unbezahlbare Gefühl von grenzenloser Freiheit und Jugend und die Erkenntnis, dass der „time of my life“-Gedanke nicht nur eine abstrakte Idee in der vielleicht nie zur Gegenwart werdenden, vagen Zukunft, sondern schlicht und einfach das Hier und Jetzt war – Castel Arabel eben.

Und dann wachte ich eines Morgens auf und es war Dezember.

Ja, genauso wie die ersten werde ich meine letzten Tage in meinem geliebten Antibes, das leider durch seine Lage zwischen den weltbekannten Städten Cannes und Nizza oft untergeht, noch sehr lange in lebhafter Erinnerung behalten. Es war ruhig geworden in der Residenz. Alle meiner engen Freunde waren bereits abgereist. Auch ich bereitete mich langsam auf die Heimreise vor. Ich beschloss, noch ein letztes Mal all die Orte zu besuchen, die mir in dieser Zeit etwas bedeutet hatten. Ich machte mich zu einem Stadtrundgang auf, um meine vier Monate in dieser wunderschönen, liebenswürdigen Stadt noch einmal Revue passieren zu lassen.

Ich ging den kleinen Hügel hinunter und befand mich sofort im Touristenstadtteil. Teure Strandrestaurants, in denen ich nie zu essen gewagt hatte, Souvenir-Shops, in denen ich nie etwas gekauft hatte, Straßenhändler, an denen ich wie so viele andere immer nur vorbeigegangen war – immerhin war ich hier kein Tourist gewesen, ich hatte hier gelebt, ein surreal schönes, unbeschwertes und aufregendes Leben.

Ich schlenderte das Kap entlang, an dem ich in sportlichen Phasen zum Laufen oder Radfahren gewesen war und erfreute mich schweren Herzens noch ein letztes Mal an seiner Schönheit, bevor ich in die Stadt kam.Ich blickte in das Café mit dem an einem meiner ersten Wochenenden hier in Antibes gekürten „besten Croissant der Welt“. Nach einer durchzechten Nacht hatte ich es aus dem einfachen Grund, dass ich keine Sekunde länger ohne Toilette aushalten hätte können und ein schlechtes Gewissen gehabt hätte, diese aufzusuchen, ohne etwas zu konsumieren, gekauft und sehr genossen. Es hatte Wochen gedauert, bis ich dieses Café wieder entdeckte und feststellte: Das Croissant schmeckte auch im nüchternen Zustand vorzüglich. Es war eines dieser Lokale, in das man sich auf Anhieb verliebt – klein, ruhig und gemütlich. Das hektische Treiben der Straße, in der es sich befand, ließ man einfach hinter sich, sobald man über die Türschwelle trat. Kleine Geschichten wie diese machten diese vier Monate so unvergesslich. Und kleine Tatsachen wie die, dass ich diese Geschichte erstmals in genau diesem Café zu Papier gebracht hatte, erfreuten mich bei meinem Abschlussspaziergang genauso wie sie es heute noch tun.

Ich blieb eine Weile vor dem Picasso-Museum stehen und dachte daran, wie widerwillig ich meiner Mutter hinterher getrottet war. „Das muss man einfach sehen, wenn man in Antibes ist“, hatte sie gesagt, als sie auf Besuch war. Und an diesem Tag hatte ich realisiert, dass mir Picassos Arbeit ausgesprochen gut gefiel. Ich hatte mir im Souvenir-Shop gegenüber sogar eine Ansichtskarte gekauft. „Ronde de la jeunesse“ hieß das darauf gedruckte Bild – Tanz/Kreis der Jugend – wie passend.

Danach setzte ich mich an einen der Tische vor dem Irish Pub, das immer unsere erste Anlaufstelle an einem Freitagabend gewesen war und in dem wir auch das eine oder andere Katerfrühstück zu uns genommen hatten. Ich bestellte mir ein letztes Mal den Burger, den wir immer so hoch gelobt hatten und erkannte: Er war in nüchternem Zustand kaum genießbar. Ich musste schmunzeln. Ich ging weiter durch die Altstadt, passierte einen der Häfen, schlenderte durch kleine, liebliche Gassen mit provenzalischem Flair und genoss ein letztes Mal das Meisterwerk meiner Lieblingseisdiele.

Am Rückweg in die Residenz kam ich noch bei der Mediathek vorbei, die ich sehr zu schätzen gelernt hatte und fand außerdem heraus, wo genau sich der Club befand, in den wir regelmäßig gegangen waren, obwohl uns bereits nach dem ersten Besuch bewusst war, dass er ein Drecksloch war. Schlechte Musik, billiger Alkohol zu teuren Preisen und dementsprechende Kundschaft. Aber irgendwie hatte er sich trotzdem zu so etwas wie unserem Stammlokal herauskristallisiert. Mit unserem Budget war die Auswahl nicht besonders groß gewesen. Ich dachte an all diese durchgefeierten Nächte und die darauffolgenden verkaterten Tage, an die im Blitzlicht tanzenden Menschen, die gleichzeitig etwas Abstoßendes und etwas Liebendwürdiges an sich hatten und an die befreiende Unbeschwertheit des Sinnlosen, die all das symbolisierte.

24. Dezember 2012. Da war ich nun wieder, vier wunderschöne Monate später, in „meiner“ Residenz, dem geliebten Castel Arabel – eine Name, mit dem sich mittlerweile fast eine Art Lebensphilosophie beschreiben ließ. Als ich mich auf den Weg zum Flughafen machte, nahm ich gemeinsam mit meinem massenhaften Gepäck unzählige Erinnerungen und wertvolle Freundschaften mit. Was ich allerdings dort ließ, war ein kleines Stück meines Herzens.

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